Was sind Konflikte? Konflikte entstehen, wenn Menschen widersprüchliche, aber berechtigte Bedürfnisse haben, innerlich oder äußerlich. Ich würde mich selbst als einen aufgeschlossenen Menschen bezeichnen. Trotzdem weiß ich, dass ich in vielerlei Hinsicht sehr eigenwillig bin. Ich genieße zum Beispiel sehr die deutsche (insbesondere bayerische) Sonntagsruhe. Keine lauten Geräusche, keine Aufgaben, keine Störungen sind erlaubt. Mein Nachbar, der in der Wohnung über mir wohnt, hat da eine ganz andere Meinung und hört auch sehr gerne afrikanische Popmusik, besonders sonntags. Wer hat nun ein falsches Bedürfnis und wer hat ein richtiges Bedürfnis? Es gibt viele Möglichkeiten, in beide Richtungen zu argumentieren, aber ist das der richtige Weg? Wenn wir darauf beharren, die Frage nach dem Falschen oder dem Richtigen zu beantworten, werden wir beide auf einer festen Front stehen, in einem Konflikt zueinander. Ich denke, die Frage nach falsch oder richtig ist hier die falsche Frage. Eine viel hilfreichere Frage wäre: Was ist hier das wünschenswerteste Ergebnis? Und: Was ist das wünschenswerteste und praktikabelste Resultat, das man von hier aus erreichen kann? Ich glaube nicht, dass „Krieg mit dem Nachbarn“ ein solches wäre, nicht wenn man die Frage ehrlich beantwortet, für keinen von uns.
Eine Sache, die solche Situationen so ärgerlich macht, ist das Gefühl der Hilflosigkeit, das immer eine große Rolle spielt, wenn Menschen in Konflikte geraten. Ich kann nicht einfach hingehen und die Musik meines Nachbarn abstellen. Ich bin darauf angewiesen, dass er meine Seite sieht, ich muss ihn bitten, sie abzustellen. Je nach meinen bisherigen Lebenserfahrungen wird mich diese Abhängigkeit von seinem Willen zu kooperieren und Empathie oder Mitgefühl zu haben triggern oder eben nicht. Wenn meine bisherigen Lebenserfahrungen solche waren, dass Menschen, insbesondere meine engsten Bezugspersonen, aus welchen Gründen auch immer, mir nicht zuhörten, dass sie nicht freundlich darauf reagierten, wenn ich meine Bedürfnisse äußerte, dann wird es mir Angst machen, einen Fremden um einen Gefallen zu bitten. Warum sollte sich ein Fremder um meine Bedürfnisse kümmern, wenn nicht einmal die Menschen, die mich angeblich lieben, sich darum kümmern? Einen Fremden um einen Gefallen zu bitten, mag dann als ein Ding der Unmöglichkeit erscheinen, auch wenn es in Wirklichkeit gar nicht so unwahrscheinlich ist, dass der andere mir hilft. Wir sind eine Spezies, die in Gruppen, in Rudeln lebt. Sich um die Bedürfnisse anderer Menschen zu kümmern, kann sich für einen Menschen evolutionär auszahlen. Fragen Sie sich selbst, ob Sie sich um die Gefühle anderer Menschen interessieren. Mich interessieren die Gefühle der anderen, warum sollte ich annehmen, dass andere da anders sind?
Wenn wir einen Widerspruch zwischen dem, was wir erwarten oder was wir uns wünschen, und dem, was wir in unserer Realität vorfinden, erleben, gibt es immer zwei Möglichkeiten, zwischen denen wir wählen können: Akzeptieren oder eine Veränderung einleiten. Mit der Möglichkeit, zu versuchen, die Dinge zu ändern, haben wir wiederum zwei weitere Optionen: Uns selbst zu verändern (unsere Überzeugungen, Einstellungen, unseren Fokus usw.) oder zu versuchen, die Außenwelt zu verändern. Oftmals betrachten wir die Veränderung der Außenwelt als die Option, die uns die größte Kontrolle bietet. Tatsächlich ist das falsch, denn es ist meist die Option mit den größten Hindernissen und dem geringsten Spielraum. Wenn ich mich über die Musik aufrege und mich dafür entscheide, das Äußere zu verändern, muss ich die Ursache finden und mich bemühen, das Geräusch abzustellen, wahrscheinlich gegen Widerstand. Wenn ich mich dafür entscheide, mich von dem Geräusch nicht mehr stören zu lassen, ist die Sache erledigt, das Problem gelöst. Der einzige Widerstand, auf den ich stoßen könnte, wäre in meinem eigenen Kopf, über den ich das Sagen habe. Viel weniger Aufwand, viel mehr Macht und Kontrolle. Was hält mich davon ab, von meinem Stuhl aufzustehen und zu tanzen? Warum sollte ich denken, dass es nicht richtig sein kann, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen? Wahrscheinlich, weil das eine Botschaft ist, die die meisten von uns immer wieder hören und gehört haben. Von Eltern, Lehrern, Chefs, Trainern, sogar in Filmen und Serien. „Du musst dich durchsetzen“, „wer zuerst da ist, gewinnt“, alles zusammengefasst in „das Überleben des Stärkeren“. Was dabei vergessen wird, ist, dass „der Stärkste“ bei weitem nicht immer der Aggressivste, Schnellste oder körperlich Stärkste ist. Der Stärkste ist derjenige, der sich am besten an die jeweilige Situation anpasst, derjenige, dessen Stärken am Besten zu den Anforderungen einer Situation passen, das ist oft genug der Flexibelste, der Netteste, Kleinste oder Langsamste.
In Konflikten, wie in so ziemlich allen Dingen, ist vermutlich die Kombination und Balance aller Möglichkeiten die günstigste Option. Warum nicht einen Kompromiss finden und den einen eine Zeitlang gewähren lassen und den anderen ein anderes Mal? Glauben Sie mir, afrikanische Popmusik kann manchmal Spaß machen, vor allem, wenn sowieso bald wieder Ruhe und Frieden einkehren.